Rückzahlung von ALG II wegen sozialwidrigem Verhalten bei unrechtmäßiger, aber nicht angefochtener Kündigung des Arbeitsverhältnisses?

Mit Urteil vom 26.02.2022 hat das Landessozialgericht Schleswig-Holstein entschieden, dass keine Rechtspflicht besteht, sich gegen eine unrechtmäßige Kündigung zu wehren. Insbesondere besteht keine Pflicht, eine Kündigungsschutzklage zu erheben und das damit verbundene Prozess- und Kostenrisiko sowie persönliche Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen. Vielmehr steht es jedem Arbeitnehmer frei, sich mit einer – auch ungerechtfertigten – Kündigung durch den Arbeitgeber abzufinden. Denn bei dem oftmals gleichzeitig vorliegendem zerrütteten Arbeitsverhältnis macht es für juristische Laien keinen Sinn, eine Klage auf Weiterbeschäftigung zu erheben, auch wenn dadurch gegebenenefalls Abfindungsansprüche geltend gemacht werden könnten.

Geklagt hatte ein ehemaliger Arbeitnehmer, dem mit Schreiben vom 15.07.2015 seitens des Arbeitgebes fristlos zum 18.07.2015 gekündigt wurde. Der Kläger erhob keine Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht.

Nachdem der Kläger vom 19.07. – 31.07.2015 Krankengeld bezogen hatte, beantragte er am 24.08.2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Hartz IV, ALG II) bei dem beklagten Jobcenter, welches Leistungen bewilligte.

Mit Bescheid vom 11.11.2015 stellte das beklagte Jobcenter fest, dass der Kläger zum Ersatz von Leistungen nach dem SGB II, also zur Rückzahlung verpflichtet sei, weil er die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II zumindest grob fahrlässig herbeigeführt habe. Denn der Kläger habe nach der Rechtsauffassung des Jobcenters grob fahrlässig arbeitsvertragliche Pflichten verletzt, die zur Kündigung führten.

Mit weiterem Bescheid vom 03.03.2016 setzte das Jobcenter einen Ersatzanspruch gegen den Kläger für die gezahlten Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 3.895,41 fest. Zur Begründung führt das Jobcenter erneut aus, dass der Kläger seine Hilfebedürftigkeit herbeigeführt habe, indem er durch eine besonders schwere Verletzung der ihm im Rahmen der beruflichen Tätigkeit obliegenden Sorgfaltspflichten seinen Arbeitsplatz und damit das existenzsichernde Einkommen verloren habe.

Gegen den Bescheid vom 03.03.2016 erhob der Kläger keinen Widerspruch, sodass der Bescheid zunächst bestandskräftig wurde. Im Mai 2016 beantragte der Kläger dann aber die nochmalige Überprüfung des Bescheides vom 03.03.2016. Diesen Überprüfungsantrag lehnte das Jobcenter ab. Gegen den Ablehnungsbescheid erhob der Klägern nunmehr Widerspruch, der vom Jobcenter jedoch zurückgewiesen wurde. Auch die hiergegen vom Kläger vor dem Sozialgericht Kiel erhobene Klage hatte keinen Erfolg. In 2. Instanz sprach das LSG Schleswig-Holstein dem Kläger nun Recht zu: Das Urteil des Sozialgericht Kiel sowie der ablehnende Überprüfungsbescheid wurde aufgehoben. Gleichzeitig wurde das Jobcenter verpflichtet, die zur Überprüfung gestellten Bescheide zurückzunehmen, weil diese rechtswidrig sind.

Nach den Ausführungen des LSG Schleswig-Holstein sind an die Prüfung des Merkmals der Sozialwidrigkeit hohe Anforderungen zu stellen. Ein fahrlässiges arbeitsvertragswidriges Verhalten, das Anlass für die Lösung eines Beschäftigungsverhältnisses gegeben und die in Anspruch genommene Person in die Lage gebracht hat, Leistungen nach dem SGB II in Anspruch nehmen zu müssen, ist sozialwidrig, wenn diese die Hilfebedürftigkeit als mögliche Folge ihres Verhaltens grob fahrlässig verkannt hat und das Verhalten einer vorsätzlichen Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit wertungsmäßig gleichsteht. Der einen Ersatzanspruch tragende Vorwurf der Sozialwidrigkeit ist darin begründet, dass der Betreffende in zu missbilligender Weise sich selbst oder seine unterhaltsberechtigten Angehörigen in die Lage gebracht hat, existenzsichernde Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Maßgebend ist insoweit jedoch nicht das Maß der Pflichtverletzung im Beschäftigungsverhältnis, sondern im Verhältnis zur Allgemeinheit, weil diese als Solidargemeinschaft die Mittel der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufzubringen hat. Das Jobcenter hat zu prüfen, ob die Kündigung durch die Vertragsverletzung gerechtfertigt und auch sonst rechtmäßig war, wovon nicht ohne weiteres bereits deshalb ausgegangen werden kann, weil sich der Arbeitnehmer nicht gegen die Kündigung gewehrt hat. Vielmehr muss das Jobcenter die Rechtmäßigkeit der Kündigung nachprüfen, auch wenn sie arbeitsrechtlich nicht mehr angreifbar ist.

Das LSG Schleswig-Holstein hatte erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Kündigung des Arbeitgebers. Diese Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Kündigung schließen den vom Jobcenter geltend gemachten Ersatzanspruch aus, so das Gericht.